Toten Hosen, Die: Lieder von der längsten Theke der Welt

Toten Hosen, Die: Lieder von der längsten Theke der Welt
Toten Hosen, Die: Lieder von der längsten Theke der Welt
 
Die Toten Hosen sind Deutschlands dienstälteste Punkband, die es im Gegensatz zu den meisten ihrer Kollegen nicht nur geschafft hat, sich ab 1981 aus dem Untergrund emporzuarbeiten, sondern sich mit Spaß und Provokation über Jahre ein immer größeres, weil »normaleres« Publikum aus allen Gesellschaftsschichten im In- und Ausland zu erspielen. Durch ihre Mitwirkung an der Bonner Inszenierung des »Uhrwerk Orange« gelang ihnen 1988 der Spagat zwischen Punk und Establishment, und nach dem im Rahmen dieser Arbeit entstandenen, ersten Hit »Hier kommt Alex« mauserte sich das Quintett zu einem Kleinunternehmen mit Riesenumsätzen. Dies führte jedoch zu keiner Anbiederung an die Musikindustrie und den breiten Publikumsgeschmack, und so kommt es, dass die rheinländischen Fußballnarren Campino, Breiti, Kuddel, Andi und Wölli auch im Jahr 2000 die Werte der »1977er-Revolution« hochhalten und damit kommerziell sehr erfolgreich sind.
 
 
Kicken, Chaos, Karneval — unter diesem Motto schlossen sich 1981 fünf fußballbegeisterte Jugendliche in Düsseldorf zum »Klub der Toten Hosen« zusammen, einer Musikgruppe, die sich in der Organisationsform an rheinischen Karnevalsvereinen orientierte und so laut und irritierend wie möglich Punkrock spielte. Sänger Campino (Andreas Frege; * 22. Juni 1962), die Gitarristen Breiti (Andreas Breitkopf; * 6. Februar 1964) und Kuddel (Andreas von Holst; * 11. Juni 1964), Bassist Andi (Andreas Meurer; * 24. Juli 1964) sowie Schlagzeuger Trini Trimpop hatten sich schon zuvor — unter dem Einfluss der aus England nach Deutschland schwappenden Punkwelle — in den Bands ZK (Zentralkomitee für extremen Pogogenuss) und KFC getummelt und setzten nun an, die bundesdeutsche Musiklandschaft umzukrempeln. Diesem Anliegen kam ein Plattenvertrag mit EMI Deutschland entgegen, und als die erste LP »Opel Gang« 1983 in die Plattenläden kam, hatten sich die jungen Wilden auch außerhalb des Rheinlands bereits einen Namen gemacht. Ihr Aufsehen erregendes Auftreten — mit bunt zusammengewürfelten Klamotten, schrägen Haarfrisuren und allem, was sonst noch an Hippie-Punk-Attributen fällig war — sowie ihre in deutscher Sprache vorgetragenen Lieder, bei denen kein Blatt vor den Mund genommen wurde, brachten herrlich frischen Wind in die etwas abgestandene, vom all zu braven Deutschrock beherrschte Musikszene. Die Kunde von dieser neuen Gruppe, bei der sich insbesondere Campino lauthals brüllend hervortat, verbreitete sich rasch, und energische Konzerte in autonomen Jugendzentren, Underground-Etablissements und bei Privatpartys verschafften der Gruppe einen beachtlichen Kultstatus. Bereits die erste Single, das Trinklied »Eisgekühlter Bommerlunder« (nicht auf der LP enthalten), lieferte Jugendlichen aller Bundesländer eine neue Hymne, und dass die Kirche, in der das dazugehörige Video gedreht wurde, nach dem Abzug von Gruppe und Filmteam neu geweiht werden musste, verschaffte zusätzlichen Ruhm und größere Bekanntheit auch außerhalb eingefleischter Fankreise.
 
 Dribbling im Mittelfeld
 
Im Vordergrund des Schaffens standen damals noch Chaos, Spaß und Experimentierfreude, was sich 1983 in der Hip-Hop-Version von »Bommerlunder« (mit dem Rapper Freddy Love) ebenso niederschlug wie 1984/85 in der Zusammenarbeit mit Norbert Haehnel, der die Hosen zur Freude aller Konzertbesucher als »Der wahre Heino« auf Tour begleitete und seine Ulkversion von »Blau, blau, blau blüht der Enzian« vortrug.
 
Der »wahre« Heino musste nach Klage des »echten« per Gerichtsbeschluss sein Treiben einstellen und 500 000 DM Strafe zahlen (die er nicht hatte und weshalb er für ein halbes Jahr in den Knast wanderte). Bei der Urteilsverkündung waren die Toten Hosen mit Freunden anwesend: Alle hatten blonde Perücken und Sonnenbrillen auf.
 
Originell waren sie immer, was sich in ihren Plattenverkäufen jedoch nicht recht niederschlug. »Opel Gang«, die Hip-Hop-Maxi und »Unter falscher Flagge«, 1984 ihre erste Platte für Virgin, wurden nur um die 20 000-mal abgesetzt, und dies, obwohl die »Flagge«-LP wieder von einem kleinen Skandal begleitet wurde. Man hatte sich im Streit von der EMI getrennt und die LP-Hülle mit dem firmeneigenen Hunde-Logo (als Skelett) versehen, was ein Verbot des Covers nach sich zog.
 
Ungeachtet — oder gerade wegen — der geringen Umsätze waren die Toten Hosen jedoch äußerst rührig, traten in deutschen Talkshows auf, machten in London Aufnahmen mit dem Poppapst John Peel (als B-Seite der »Liebesspieler«-EP 1984 veröffentlicht), absolvierten einen Gastauftritt in dem »Formel 1«-Film und gaben Konzerte nicht nur in Deutschland, sondern auch in Polen, Ungarn, der ČSSR und Skandinavien sowie halblegal in der DDR. Nach der Heavy-Metal-Parodie »Battle of the bands« und einer groß angelegten, eher enttäuschend verlaufenen Deutschlandtournee im Herbst 1985 stieg Trini Trimpop aus, um sich ausschließlich und verstärkt um die Geschäfte der Gruppe zu kümmern. An seine Stelle rückte der Schlagzeuger Wölli (Wolfgang Rohde).
 
 
In neuer, nun endgültiger Besetzung ging es frisch ans Werk. In der Talkshow »Bios Bahnhof« stellten die Toten Hosen 1986 ihr »Altbierlied« vor, das zu einem Karnevalsschlager avancierte, und demolierten die Kulissen. Eine Großaktion, die »Magical Mystery Tour«, führte die Gruppe durch bundesrepublikanische Wohnzimmer (mieten konnte sie, wer wollte), wobei die Behausung des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Albrecht medienträchtig Schaden nahm (der Sohn des Politikers hatte die Hosen in die elterliche Villa eingeladen). Im Herbst des Jahres erschien die LP »Damenwahl«, und bei der begleitenden Tournee kam es zu Auftrittsverboten. Eine 1987 folgende, nur aus hart gespielten Coverversionen deutscher Schlager bestehende LP, »Never mind the Hosen — here's The Roten Rosen«, lehnte sich optisch und im Titel an die bahnbrechende LP »Never mind the bollocks« der Sex Pistols an und schaffte es als erste, sich mehr als 100 000-mal zu verkaufen, was für die Düsseldorfer Fun-Punks nun endlich das Ende der weitgehend mittellosen Lehr- und Wanderjahre und den kommerziellen Durchbruch brachte. Ihr bisheriges, engagiertes Schaffen stellten sie im Zuge dieses Erfolgs mit der Live-LP »Bis zum bitteren Ende« (1987) einer nun zunehmend breiteren Öffentlichkeit vor. 1988 versuchten die Toten Hosen den schwierigen Spagat zwischen autonomem Punkpublikum und etablierter »Kultur«, als sie live und auf Platte in Form von »Ein kleines bisschen Horrorshow« die Musik für eine Aufsehen erregende Inszenierung des Skandalstoffs »Uhrwerk Orange« (von Anthony Burgess) lieferten. Der ausgekoppelte Song »Hier kommt Alex« wurde zur ersten Hit-Single der Toten Hosen, die nun immer mehr Freunde im »durchschnittlichen«, zahlungskräftigen Publikum fanden und dadurch langsam begannen, ihre Glaubwürdigkeit bei den Außenseitern der Gesellschaft, ihrer bislang ergebenen Punkklientel, zu verlieren. Doch die Hosen hatten sich nie angebiedert und gingen kompromisslos ihren Weg weiter, der sie 1989 durch ausverkaufte Konzerthallen in Deutschland, Österreich und der Schweiz führte. Bei dieser triumphalen Tournee sammelte die fußballnärrische Gruppe, die selbst eine Mannschaft betrieb und unter anderem 1986 den »Schwarzwald-Pokal« in Freiburg erkämpft hatte, an die 200 000 DM zur Unterstützung »ihres« Vereins Fortuna Düsseldorf. Von jeder Eintrittskarte zu ihren Konzerten ging eine »Fortuna-Mark« ab, doch der Verein schaffte den Klassenerhalt trotzdem nicht.
 
 Tor
 
Nach dieser herben Enttäuschung war der Megaerfolg des Doppelalbums »Auf dem Kreuzzug ins Glück« 1990 ein »kleines« Trostpflaster, denn die Toten Hosen hatten mit der Platte, die eine Zusammenarbeit mit den bayerischen Biermösl Blosn und die im WM-Fieber aufgenommene Single »Azzurro« enthielt, ihre erste Nr. 1 in den deutschen LP-Charts. Sie wurden von den Rolling Stones auserwählt, im Frühjahr bei deren Kölner Open-Air-Auftritten das Vorprogramm zu bestreiten, und die im Herbst beginnende große Tournee führte erneut durch ausverkaufte Hallen. 1991 erfüllten sich die Toten Hosen einen Traum, als sie mit ihren Vorbildern, den Musikern etlicher legendärer Punkbands (u. a. Ramones, Lurkers, Damned, Sham 69), die rein englischsprachige LP »Learning English — Lesson one« mit Neufassungen von deren alten Hymnen einspielten. Für die Aufnahme mit dem Posträuber und Punkhelden Roland Biggs reisten sie gar nach Rio de Janeiro, bedeutender war indessen, dass Johnny Thunders, das ausgesprochene Idol von Campino, mit den Hosen die letzte Aufnahme seines Lebens machte (er starb kurz darauf). In Sachen Politik hatten die Toten Hosen von Anfang an klar (linke) Stellung bezogen, 1986 hatten sie sich an den Protesten gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf beteiligt, 1991 traten sie beim Berliner Festival gegen Ausländerfeindlichkeit, »Ich bin ein Ausländer«, auf. Mit ihrer folgenden Single, »Sascha, ein aufrechter Deutscher«, bekräftigten sie Anfang 1993 ihre Haltung, indem sie sich kritisch zum zunehmenden Rechtsradikalismus in Deutschland äußerten (dem Antrag der »Republikaner« auf Verbot des Songs gab die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft nicht statt) und den Erlös der Verkäufe zu 100 % der Düsseldorfer Ausländerhilfe zukommen ließen. Campino, der Sänger und in politischen wie gesellschaftlichen Fragen immer prominenter auftretendes Sprachrohr der Gruppe, übernahm 1992 eine Rolle als Schauspieler in dem Kinofilm »Langer Samstag« (Regie: Hanns Christian Müller). Die Banddokumentation »Drei Akkorde für ein Hallelujah«, vom Manager Trini Trimpop zusammengeschnitten, war bereits 1991 vorgestellt worden. 1993 veröffentlichten die Toten Hosen die ironisch betitelte LP »Kauf mich!«, die sich über Werbe- und Verkaufsstrategien im Business lustig machte. Abertausende folgten dem Appell und sicherten der Platte sowohl einen dritten Platz in der deutschen Hitparade als auch Platinstatus. Als Anheizer begleiteten die Hosen die irische Supergruppe U2 durch deutsche Stadien, um dann die »Magical Mystery Tour« bei skurrileren Kleinveranstaltungen wieder aufzunehmen. Gegen Ende des Jahres folgte die Best-of-CD »Reich ' sexy«, die in der Hitparade wieder ganz oben mitmischte. Im Folgejahr erschien diese Songsammlung in englischer Sprache unter dem Titel »Love, peace ' money«, und mit internationalem Anstrich versehen machte sich die Gruppe nun zu einer Tournee um den Erdball auf. Konzerte in Südamerika (u. a. beim legendären »Rock in Rio«-Festival), in den USA (mit der amerikanischen Nachwuchs-Punkband Green Day) sowie in Japan verliefen erfolgreich und machten die Toten Hosen zu so etwas wie Botschaftern des deutschen Dichtens und Denkens.
 
 Sieg
 
Nachdem Virgin 1995 eine liebevoll zusammengestellte CD-Box mit den frühen Maxis veröffentlicht hatte, legten die Toten Hosen erst 1996 — nach einer Erholungspause, die sie auch genutzt hatten, um ihre Geschäfte neu zu ordnen (mit eigenem Plattenlabel JKP = Jochens Kleine Plattenfirma und neuem Vertriebspartner EastWest) und sich in diesem Jahr erstmals am Düsseldorfer Karnevalsumzug zu beteiligen — neues Material in Form von »Opium fürs Volk« vor, einer weiteren Nr.-1-LP. Eine der Singleauskopplungen war ein textlich verändertes Kinderlied, das als »Zehn kleine Jägermeister« wieder einmal die Trinkfreudigkeit der Gruppe zu unterstreichen schien und ihr erstmals die Spitzenposition in den Single-Charts verschaffte. Ein anderer Song, »Bonnie ' Clyde«, handelte der Gruppe eine Strafanzeige wegen Polizistenbeleidigung ein, und die Nummer »Paradies« wurde wegen angeblicher Kirchenfeindlichkeit vom Bayerischen Rundfunk nicht gespielt. Im Zuge der begleitenden Tournee erfolgten Konzertmitschnitte, die dann unter dem Titel »Im Auftrag des Herrn« als zweites Livealbum veröffentlicht wurden. Am 28. Juni 1997 gaben die Toten Hosen ihr eintausendstes Konzert im Düsseldorfer Rheinstadion (bereits seit der ersten Januarwoche ausverkauft). Was als Karrierehöhepunkt geplant war, geriet zur Katastrophe und zum schwärzesten Tag in der ansonsten so bunten Bandgeschichte, denn in dem Gewühl vor der Bühne wurde ein junges Mädchen erdrückt. Nach diesem Schock zog sich die Gruppe zurück und nahm 1998 fernab der Heimat an der »Warped«-Tour durch Australien, Japan und Hawaii teil. Ende 1999 erschien unter dem »Rote-Rosen«-Etikett die aufgepeppte Weihnachtsliedersammlung »Wir warten auf das Christkind« — eine weitere Verballhornung deutscher Liedguttraditionen. Zu Beginn des Jahres 2000 ließen die fünf Düsseldorfer Punkrocker, die längst einen festen Platz im deutschen Rockbusiness einnahmen, dann den Longplayer »Unsterblich« folgen, der sich in der deutschen Hitparade erneut ganz nach oben vorarbeitete. Mit dieser Platte präsentierten sich die Toten Hosen älter und weiser, aber noch kein bisschen leiser.
 
 
Opel Gang (1983)
 
Unter falscher Flagge (1984)
 
The battle of the bands (1985)
 
Damenwahl (1986)
 
Never mind the Hosen — here's Die Roten Rosen (1987)
 
Bis zum bitteren Ende — live! (1987)
 
Ein kleines bisschen Horrorshow (1988)
 
Auf dem Kreuzzug ins Glück (1990)
 
Learning English — lesson one (1991)
 
Kauf mich! (1993)
 
Reich ' sexy — ihre 20 größten Erfolge (1993)
 
Love, peace ' money (1993)
 
Die Toten Hosen — Musik war ihr Hobby (1995)
 
Opium fürs Volk (1996)
 
Im Auftrag des Herrn — die Toten Hosen live (1996)
 
Die Roten Rosen — Wir warten auf das Christkind (1999)
 
Unsterblich (2000)
 
 
Müller, Andrea: Die Toten Hosen. Punkrock made in Germany. Düsseldorf 21996.
 
Bis zum bitteren Ende. .. Die Toten Hosen erzählen ihre Geschichte, bearbeitet von Bertram Job. Neuausgabe München 1997.
 Jessen, Kai: Die Toten Hosen. Für immer Punk! München 1997.

Universal-Lexikon. 2012.

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